Zur Ideologie der halleschen „Identitären“ Gruppe

Über die „Identitäre Bewegung“ und insbesondere ihre Ideologie ist schon einiges an gut recherchierten und analytischen Texten geschrieben wurden, so dass ein weiterer eigentlich kaum notwendig erscheint. Dennoch soll dieser Text einen kurzen Abriss des Welt- und Selbstbilds des halleschen Ablegers der „Identitären“, welcher lange Zeit unter dem Titel „Kontrakultur“ aktiv waren, liefern – zum einen, weil eben ein Verstehen der Ideologie der Gruppe grundlegend notwendig ist, um ihre Aktivitäten zu verstehen, zum anderen, weil diese Broschüre insbesondere Personen ansprechen soll, die sich bisher kaum oder noch gar nicht mit den “Identitären” beschäftigt haben.

Die „Identitären“, insbesondere die in Halle, inszenieren sich selbst gern als friedliche, „patriotische“ Jugendbewegung, die versucht, mit Mitteln des zivilen Ungehorsams auf das, was sie als existenzielle Bedrohung Deutschlands begreifen, aufmerksam zu machen. Mit dem Schlagwort „Ethnopluralismus“ versuchen sie, Werbung für ein Gesellschaftsmodell zu machen, in dem Menschen auf Basis ihrer Kultur und Nation, die in eins gesetzt werden, nebeneinander, aber durch Landesgrenzen getrennt leben sollen. Im Weltbild der Identitären sind Personen so durch die Sozialisation in einer bestimmten Kultur geprägt, dass sie diese Prägung nie ablegen können und es automatisch zu Konflikten kommen muss. Dabei ist das Kulturverständnis der „Identitären“ aber fundamental völkisch – es geht nicht primär um das Land und die Umstände, in denen man geboren wurde oder aufwuchs, sondern um die Abstammung. Das beste Beispiel dafür ist eine Aussage von Mario Müller, der lange Gesicht und Sprecher der „identitären“ Gruppe in Halle war. Er wurde in einem Interview, das 2017 in der “Zeit” veröffentlicht wurde, gefragt, ob man denn den Sohn türkischer Einwanderer, der in Deutschland geboren wurde und aufwuchs, also deutscher Staatsbürger und in Deutschland sozialisiert ist, als Deutschen bezeichnen könnte. Müller verneinte dies, denn man könne ja einen Hund auch nicht einfach Katze nennen.

Da sich im Weltbild der „Identitären“ Individuen nie von ihrer Prägung durch Abstammung lösen können und Kulturen inhärent unterschiedlich seien, wird Migration als Bedrohung begriffen, die abgewehrt werden müsse. Das kann man an Kampagnen wie der „Defend Europe“-Mittelmeermission, oder auch den „No Way“-Plakaten, die sowohl 2015 in Halle und im Juni 2018 am Haus der „Identitären“ verklebt wurden, gut sehen. Insbesondere zwischen den Kulturen und damit auch den Bewohner_innen islamisch geprägter Länder des globalen Südens und Europas bestehe laut der „IB“ ein unlösbarer Kulturkonflikt, der die Existenz Europas und der Deutschen durch „Islamisierung“ bedrohe und angeblich durch die höhere Geburtenraten in arabischen Familien verschlimmert würde. So käme es schließlich zum „großen Austausch“ der Deutschen beziehungsweise Europäer. Die wichtigste Aufgabe einer jeden Nation, die als Verkörperung des Volkes gesehen wird, sei der Selbst- und damit Volkserhalt, welcher jedes Mittel rechtfertige.

 

Das Fundament des völkischen Weltbilds der „Identitären“ ist ein klarer Anti-Universalismus, den sie nicht nur mit der AfD, dem Institut für Staatspolitik in Schnellroda – ihrem engsten Verbündeten in Sachsen-Anhalt – und anderen „Identitären“ Gruppen, sondern allgemein der sogenannten „Neuen“ Rechten teilen. Die „Identitären“ lehnen also die Idee, dass alle Menschen schon allein aufgrund ihres Menschseins die gleichen Rechte und Freiheiten haben sollten, ab und behaupten, dass es natürliche, inhärente Unterschiede zwischen Menschen gäbe, aufgrund derer sie unterschiedlich behandelt werden müssten. In dieser Ungleichbehandlung sehen „Identitäre“ wie Martin Sellner aus Österreich, der auch eng mit der Gruppe aus Halle zusammenarbeitet, aber keine Ungerechtigkeit und keine Wertung. Angeblich ließen sich die deutsche, die türkische, die muslimische oder die europäische Identität, die alle natürlich und klar voneinander abgrenzbar seien, nur bewahren, indem man Deutsche, Türken, Muslime und Europäer_innen unterschiedlich behandele und ihnen unterschiedliche Rechte zugestehe. Alles andere sei laut einem VLog von Sellner eine Lüge „der Multikultis, der Universalisten“, die er klar als politische Gegner der „Identitären“ benennt, und Teil einer „kranken Ideologie der Gleichheit“.

 

Der Anti-Universalismus der „Identitären“ hört jedoch nicht bei ihrem völkischen Weltbild auf, sondern ist auch die Basis für ihre antiliberalen und antidemokratischen Einstellungen und die Art, wie sie Geschlecht sehen. Ähnlich wie „Volk“ werden die Geschlechter Mann und Frau als natürliche, konstante Identitäten betrachtet; die Art, wie diese Identitäten ausgelebt werden kann sich aber durchaus aufgrund wirtschaftlichen Bedingungen verändern, zum Beispiel, wenn Frauen lohnarbeiten müssen. Als vermeintlich natürliche, klar voneinander abgegrenzte und trotzdem aufeinander bezogene Kategorien existieren sie aber trotzdem immer und überall.

In diesem Weltbild kommt dem Mann eine in der Öffentlichkeit aktivere Rolle zu als der Frau, auch wenn in der Selbstinszenierung der halleschen Gruppe Melanie Schmitz lange eine tragende Rolle gespielt hat. In der Ideologie der „Identitären“ sind Frauen inhärent empathischer und emotionaler und dementsprechend weniger gut für Führungsrollen geeignet, da man sie aufgrund ihrer Empathie leichter manipulieren könne, weshalb sie auch eine Mitschuld an der Aufnahme von Geflüchteten und damit dem „großen Austausch“ hätten. Wegen dieser inhärent empathischen Natur sei die Hauptaufgabe der Frauen aber das Umsorgen und die Erziehung der Kinder und die Unterstützung des Mannes und damit die Erhaltung des Volks auf zwei Ebenen: der direkt reproduktiven durch Geburt und Erziehung und der indirekt reproduktiven durch sogenannte Sorgearbeit. Als Vorbild dient dabei wenig überraschend die Dynamik, die den “germanischen Völkern” zugeschrieben wird, bei denen Frauen als Kampfgefährtinnen des Mannes primär unterstützende und anfeuernde Rollen eingenommen hätten, die sie nur ablegten, wenn die Männer im Kampf gegen den Feind versagten. Tatsächlich selbstbestimmte, vollwertige Subjekte sind Frauen in diesem Weltbild nicht, sondern primär das, was Virginia Woolf und Pierre Bourdieu als „schmeichelnde Spiegel“ der Männer bezeichnen. Feministische Bestrebungen sind als Gleichmacherei, die die natürliche Rolle der Frau auflösen wollen, verpönt; gleichzeitig werden aber feministische Überlegungen in Bezug auf sexualisierte Gewalt instrumentalisiert, um gegen Migration Stimmung zu machen. Antifeministische Kampagnen wie 120db werden als der „wahre“ Feminismus dargestellt, der zum einen das angeblich natürliche Wesen der Frau bewahre und sie zum anderen vor den „Feinden“ – Männern mit Migrationshintergrund – beschütze.

 

Während die so idealisierte Frau also primär passiv und unterstützend ist, fordert das „identitäre“ Weltbild von Männern einen Lebensstil aktivistisch-soldatischer Härte, die an konstante Selbstkasteiung grenzt. Dieser bezieht sich beispielsweise positiv auf den fiktionalisierten Kampf der Spartaner unter Leonidas im Film “300” sowie auf reale Männer wie Jan Palach, der sich aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings selbst anzündete oder Dominique Venner, einem neurechten französischen Essayisten, der sich aus Protest gegen die gleichgeschlechtliche Ehe erschoss. Auch das ursprüngliche Symbol der Kontrakultur, der Erzengel Michael, ist nicht nur Symbol des kämpferisch-europäischen Christentums, sondern auch einer wehrhaften Männlichkeit, die immer dann hervorbricht, wenn das „deutsche Wesen“ verteidigt werden müsse. Die Rückbesinnung auf diese „echte“ Männlichkeit, die durch Liberalismus und Feminismus verteufelt und dementsprechend bedroht werde, wird als Lösung nicht nur der Krise der Männer an sich, sondern auch als Teil der Lösung der angeblich andauernden Identitätskrise der Deutschen gesehen. Wehrhaftigkeit, Stolz, Härte und Selbstaufopferung für die „gute Sache“, also das deutsche Volk, stehen dabei im Mittelpunkt der Männlichkeitskonstruktion. Anders als bei der „Identitären Bewegung Österreich“ betont die hallesche Gruppe immer wieder die Wichtigkeit von Kampfsport und Wehrfähigkeit.

Zeitgleich existiert das Bild des rationalen, vernünftigen, männlichen „Theoretikers“, der die Welt beobachtet, versteht und kommentiert, als eine Art Alternativangebot. Einige Kader der halleschen Gruppe inszenieren sich so in ihrer Autorentätigkeit für die Sezession, den Antaios-Verlag, aber auch in Bezug auf ihre Videoprojekte, wie den Youtubekanal “Laut Gedacht” oder Videos der Initiative “EinProzent”. Die Betonung der rationalen Analysefähigkeit, die Männern inhärent sein soll, fungiert dabei vor allem als Abgrenzungsmerkmal von den angeblich von Natur aus emotionaleren Frauen. Gleichzeitig sind es die Analysen des „Theoretikers“, die handlungsleitend für die „Identitäre Bewegung“ sein sollen, wie man zum Beispiel an der exponierten Rolle von Martin Sellner sehen kann.

 

Auffällig an beiden Arten Männlichkeit innerhalb der „Identitären“ zu konstruieren und zu leben ist, dass in beiden Spielarten Hierarchien und ein autoritärer Führungsanspruch angelegt sind. Während die Rolle des intellektuellen Anführers im Bild des „Theoretikers“ klar impliziert ist, bietet auch die soldatisch-kameradschaftliche Männlichkeit die Möglichkeit nicht nur zu gehorchen – wobei diese Erwartung an „identitäre“ Aktivist*innen klar kommuniziert wird – sondern selbst zu führen und strategische Entscheidungen zu treffen. Ein Beispiel für diese autoritäre Führerstruktur ist zum Beispiel die Tatsache, dass Daniel Fiss, Vereinsvorsitzender der “Identitären Bewegung Deutschland”, laut einem Video der YouTuberin ‘Lisa Licentia’ die bereits erwähnte Kampagne “120db” und andere IB-Frauengruppen “von oben plattgemacht” hat. Die klaren Hierarchien innerhalb der “Identitären Bewegung”, die auch im von Antifaschist_innen veröffentlichten Strategiepapier der “IB Schwaben” aufgeschlüsselt sind, speisen sich zum einen aus dem bereits erwähnten fundamentalen Anti-Universalismus der Gruppe. Zum anderen ist dafür das negative Menschenbild der “Identitären” grundlegend, laut dem Menschen ohne stabilisierende Gruppenidentität und Führung so verunsichert sind, dass sie verloren wären. Aus ebendiesem resultiert auch die Abwertung des Individuums und die Überbetonung des (völkischen) Kollektivs, von dem sich das Individuum nicht nur nie emanzipieren kann, sondern für das es sich im Zweifelsfall auch opfern muss.


Diese Opferbereitschaft wird mit einem weiteren grundlegenden Moment des „identitären“ Weltbildes gerechtfertigt, laut dem die deutsche Gesellschaft und damit das deutsche Volk kurz vor dem Untergang stünde, den es abzuwehren gelte. Das Bild des „großen Austausches“, dessen sich die “Identitären” immer wieder bedienen, ist natürlich das offensichtlichste Beispiel für diese Untergangsfantasie, aber auch die Rhetorik, mit der die Mittelmeermission „Defend Europe“ gerechtfertigt und beworben wurde, spielt mit dieser Angst. Insbesondere die sogenannte „Kontrakultur“, aber eigentlich die gesamte „Identitäre Bewegung“, inszenierte sich dabei als erste Reihe im letzten Kampf, die heroisch und inspirierend versucht, den Rest des „deutschen Volkes“ aufzuwecken, damit sie sich wehren und “ihr Land” verteidigen. Auffällig an der Krisenrhetorik der „Neuen Rechten“ allgemein und der „Identitären“ im Besonderen ist, dass nicht die Migration und der angeblich mit ihr einhergehende Identitätsverlust als Ursache der Krise gesehen werden, sondern westliche Dekadenz, Hedonismus und Liberalismus, die das „Volk“ seiner Wehrhaftigkeit und Identität berauben und es erst anfällig für den „großen Austausch“ gemacht haben.

 

Neben der Phantasie des drohenden Untergangs ist ein weiterer wichtiger ideologischer Moment des “identitären” Selbstbildes der Glaube an die eigene Position als ausgegrenztes Opfer einer „multikultifreundlichen“ Gesellschaft. Eine angeblich existierende linke Hegemonie, die von quasi allen Medien und gesellschaftlichen und politischen Akteuren, von der WELT über die CDU bis zur taz und der Linkspartei, aufrecht erhalten werde, sei verantwortlich für die gesellschaftliche Ausgrenzung von Patriot_innen, gegen die man sich durch die Gründung eigener Organisationen wie Gewerkschaften und Medienplattformen wehren müsse.

 

Der Glaube an den drohenden Untergang und die eigene Opferrolle dienen als rhetorische Rechtfertigung der Gewaltbereitschaft der „Identitären“. Zwar inszeniert man sich mit großer Sorgfalt als friedlich-patriotisch und harmlos, die Betonung der Wichtigkeit von Kampfsporttrainings, die von den „Identitären“ begangenen Übergriffe und nicht zuletzt Veröffentlichungen ihrer Vordenker wie Götz Kubitscheks und Jack Donovans “Der Weg der Männer” offenbaren diese Inszenierung jedoch schnell als strategisches Mittel. Nach dem Angriff auf Zivilpolizisten auf dem Steintorcampus im November 2017 zogen „Identitäre“ auf Facebook und „Einprozent.de“ vorangegangene Angriffe auf das Haus und die Untätigkeit der angeblich mit Linken sympathisierenden Polizei als Rechtfertigung für ihre eigene Gewalt heran. Auch die Reaktion auf das Attentat von Christchurch entlarvt die vermeintliche Friedfertigkeit der „Identitären“ als eine Lüge: der terroristische Angriff wird von Martin Sellner in einem Video als eine Konsequenz der multikulturellen Gesellschaft und des damit einhergehenden Identitätsverlusts dargestellt, der zwar bedauerlich, aber letzten Endes verständlich und implizit gerechtfertigt sei. So ist Gewalt zwar im „identitären“ Weltbild vielleicht nur das letzte, verzweifelte, aber dennoch ein gerechtfertigtes, mit der Ideologie begründetes Mittel. Gleichzeitig ist die logische Konsequenz aus dem Bild der ethnisch homogenen Nation, auf das die „Identitären“ hinarbeiten, Gewalt auch in Form von Abschiebungen und Abschottung, die zum Tod von Menschen im Mittelmeer führt.


Die „Identitäre Bewegung“ und ihr hallescher Ableger tritt nicht mit dem Anspruch an, die (deutsche) Gesellschaft nach ihrem Weltbild einheitlich neu zu ordnen. Strategisch gesehen sind die „Identitären“ darauf ausgerichtet, ihre zentralen ideologischen Momente durch sogenannte „metapolitische“ Strategien in die Gesellschaft zu tragen und so die gesamtgesellschaftliche Stimmung nach rechts zu rücken. In Anlehnung unter anderem an Gramsci, aber primär an Alain de Benoist, soll die Idee, dass Multikulturalismus und Migration essentielle Bedrohungen für eine stabile Gesellschaft seien, durch Nutzung von sozialen Medien, spektakulären Aktionen und mehr oder weniger berühmten Multiplikatoren außerhalb von Parteien und Parteiprogrammen verbreitet werden. Deshalb lag der Fokus der „Identitären“ eher auf Aktionsformaten wie Straßentheater, Bannerdrops, Transpiaktionen oder Blockaden, die mit relativ wenig Aufwand sowohl mediale Aufmerksamkeit als auch gute Bilder für Facebook und Instagram produzierten, und eher weniger auf klassischen politischen Aktionen wie Demonstrationen oder Infoständen. Gleichzeitig soll eine identitätsstiftende Gegenkultur aufgebaut werden, mit der die eigenen Inhalte auch innerhalb der eigenen Zielgruppe verbreitet und so Zusammenhalt gestiftet werden kann, wobei insbesondere nach dem Verlust der Facebookpräsenzen darauf geachtet wird, dass das Label „Identitäre Bewegung“ nicht explizit im Kontext von ihrem als “Flamberg” bezeichneten Haus verwendet oder mit Kampagnen wie “120db” in Kontakt gebracht wird.

 

Die zentralen Momente der Ideologie der „Identitären“ sind der Anti-Universalismus, die völkische In-Eins-Setzung von Nation, Gesellschaft und Kultur, die herbeifantasierte existenzielle Bedrohung ebendieser, klare Geschlechterrollen, die Betonung von Autorität, Hierarchie und Härte gegen sich selbst, die zentrale Rolle des Kollektivs und die Abwertung des Individuums, welche klar Merkmale eines faschistischen Weltbilds sind. Dementsprechend gehört die “Identitäre Bewegung” als faschistische Gruppe bekämpft. Aus Platzgründen sind viele ideologische Momente – zum Beispiel das konkrete Verhältnis der Identitären zum Islam, ihr verschwörungsideologischer, struktureller Antisemitismus, das Verhältnis zum Christentum und ihre Feindbestimmung – hier gar nicht, und einige durchaus nur verkürzt, dargelegt wurden. Interessierten seien deshalb die Bücher Untergangster des Abendlandes von Judith Goetz, Joseph Maria Sedlacek und Alexander Winkler und Die autoritäre Revolte von Volker Weiß besonders empfohlen.

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