Bericht des Prozesses gegen Mario Müller und Dorian Schubert im Juni 2020

Erster Prozesstag

18. Juni 2020, 9.30 Uhr
Angekündigt worden war der Prozess gegen zwei der aktivsten Mitglieder der Halleschen „Identitären“, die in der Hochphase ihrer Aktivität als „Kontrakultur“ bekannt waren, bereits im letzten Jahr. Allerdings war damals der erste Verhandlungstermin geplatzt. Somit fiel der Prozessbeginn nun genau in die Zeit der durch die Pandemie bedingten Auflagen. Dies hatte zur Folge, dass obwohl einer der größten Säle im Hochsicherheitstrakt des halleschen Amtsgerichts für den Prozessbeginn reserviert war, nur zwanzig Zuschauer*innenplätze zur Verfügung standen, von denen zehn für die Presse reserviert waren. Entsprechend früh solle man da sein, so die Aussage des Gerichts – first come, first serve. Umso überraschender war es für die zahlreich angereisten Beobachter*innen, dass diese Regelung am Tag selbst über den Haufen geworfen wurde. Eine Viertelstunde bevor der Saal geöffnet werden sollte, erschien eine offensichtlich einschüchternd wirkend wollende Großgruppe von 25 Sympathisant*innen und Mitgliedern der IB, demonstrativ mit Schlauchtüchern vermummt und konfrontativ gegenüber den Wartenden. Als ob dieser Auftritt Eindruck geschunden habe, rückten zunächst Bereitschaftspolizist*innen in den ohnehin schmalen Flur und kurz darauf ein Mitarbeiter des Gerichts, der bekannt gab, dass das Präsidium des Gerichts entschieden habe, dass „aufgrund der angespannten Situation […] fünf von jeder Gruppe“ eingelassen würden, die anderen hätten das Gebäude zu verlassen. Absolut unverständlich ist, wie diese „Gruppen“ definiert werden sollen. Zumindest die Faschist*innen nahmen an als eine dieser Gruppen zu gelten und präsentierten in Windeseile fünf Personen, unter ihnen die Mitglieder der ehemaligen „Kontrakultur“ Till-Lucas Wessels (selbsternannter Lyriker, Autor der Sezession, Redner bei PEGIDA), Andreas Karsten (Besucher von Neonazifestivals (1), Kampfsportler (2)) und Tom Tandel (Ex-JN Sachsen-Anhalt (3)). Die übrigen angereisten Besucher*innen wurden so im Ausschlussverfahren zur „anderen Gruppe“ erklärt und mussten unter sich fünf Personen ausmachen. Das vom Amtsgericht gewählte Verfahren ist nicht nur ungewöhnlich, sondern juristisch fragwürdig und zeugt von einer beängstigenden Institutionalisierung der Hufeisentheorie. Eine wirkliche Öffentlichkeit für den Prozess ist mit diesem willkürlichen Verfahren nicht zu gewährleisten.
Die Sicherheitsvorkehrungen waren erwartbar: persönliche Gegenstände mussten bis auf ein Minimum eingeschlossen werden, Personalien wurden – vorgeblich aufgrund der Pandemie-Bestimmungen – aufgenommen und nummerierte Plätze zugewiesen. Die beiden Angeklagten Müller und Schubert, die zusammen mit den Neonazi-Anwälten Steffen Hammer (Müller) und Alexander Heinig (Schubert) im Taxi anreisten, betraten kurz nach neun den Gerichtssaal. Müller im weißen Hemd, Schubert im grauen T-Shirt sollten nicht nur aufgrund ihrer Kleidung sehr unterschiedliche Stile im Auftreten zeigen. 
Dass der Prozess vor einem Schöffengericht geführt wird, kann als Indiz für die angenommene Schwere und die daher zu erwartenden Urteile im Falle einer Verurteilung gewertet werden. Ginge die Staatsanwaltschaft von einer Strafe unter zwei Jahren Haft aus, hätte es nur der Vorsitzenden Richterin bedurft. Die Anwesenheit der Schöffinnen lässt auf eine von der Staatsanwaltschaft angedachte Strafe von zwei bis vier Jahren schließen. Für den wegen Gewaltverbrechen vorbestraften Müller (4) und den wegen eines vergleichbaren Angriffs bereits 2011 angeklagten Schubert, der damals nicht aufgrund bewiesener Unschuld, sondern aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde – spannend: auch damals war Heinig Teil der Verteidiger (5) – keine rosigen Aussichten. 
Beiden wird vorgeworfen in der Nacht des 20. November 2017 zwei zivile Polizeibeamte angegriffen zu haben. Dabei hätten sie erst von ihnen abgelassen, als diese ihre Dienstwaffen gezogen hätten. Während Schubert bei dem Angriff eine Sturmhaube getragen und mit einem Baseballschläger bewaffnet gewesen sein soll, habe Müller einen ausrangierten Polizeihelm mit zugehörigem Schild und Knüppel, sowie ein umgangssprachlich als „Pfefferlöscher“ bekanntes  „RSG 8“, ein Pfefferspray mit 400ml Inhalt und einer Reichweite von sieben Metern, mit sich geführt. Mit diesem habe er die zwei Zivilpolizisten angegriffen, obwohl einer sich durch eine Armbinde und beide durch mehrmaliges Rufen als Polizisten zu erkennen gegeben hätten.
Direkt hier versucht der durch dominantes bis cholerisches Redeverhalten auffällige Anwalt Heinig schon zu intervenieren. Die Anklage zeige deutlich, dass sein Mandant nicht am Angriff beteiligt gewesen, die Anklage daher rechtsfehlerhaft und das Verfahren gegen seinen Mandanten unverzüglich einzustellen sei . Dass dieser Einwurf den Staatsanwalt und die Richterin weitestgehend unberührt ließen, mag an ihrer leicht lethargischen Art, aber auch an der inhaltlichen Unsinnigkeit des Einwurfs liegen. Zum einen ist das Ende des Verfahrens bekanntermaßen der Zeitpunkt, an dem die Argumentation über Schuld und Unschuld abgeschlossen sein soll und zum anderen muss Schubert nicht den Finger am Pfefferspray gehabt haben, um wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung verurteilt zu werden. Immerhin handelten die beiden nach bisherigem Erkenntnisstand gemeinsam. 
Müller wird weiterhin, so der Staatsanwalt, wegen illegalen Waffenbesitzes angeklagt, da die Polizei auf der Fensterbank seiner Wohnung im zweiten Stock der Adam-Kuckhoff-Str. 16 schussbereit eine „Präzisionsschleuder oder Zwille“ mit Stahlkugeln gefunden habe. Mit nicht viel mehr Dialog als einem Augenzwinkern geht die Richterin über diesen Anklagepunkt hinweg, verweist Müller gegenüber darauf, dass das ja geklärt sei und nur der Form halber noch immer in der Anklage stünde. Welche Art von Lösung zu diesem Ergebnis geführt hat, bleibt für die Zuhörer*innen Spekulation.
In der Folge bekommen die beiden Angeklagten die Möglichkeit zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen. Und hier kommt es zu einem der seltenen Momente, in denen die Verteidigung etwas Kluges und Richtiges macht. Sie lassen Schubert nicht selbst sprechen. Stattdessen erläutert sein Anwalt, was in der betreffenden Nacht geschehen sei. Es bleibt der Fantasie überlassen, was Schubert selbst gesagt hätte. Erfahrungsgemäß gleicht sein Artikulationsvermögen dem einer Frühkartoffel und er kommt auch im Dialog mit politischen Gegner*innen nicht über zweisilbige homofeindliche und sexistische Beleidigungen und ein grunzendes Lachen hinaus. Vielleicht wollten sie auch ein Desaster wie im Vorjahr verhindern, als die ähnlich gut ausgebildete Eloquenz Andreas Karstens zusammen mit dem ideologisch aufgeladenen Gebrabbel Martin Sellners dazu führte, dass zwei angebliche Angreifer*innen, deren Schuld die „Identitären“ sich sicher waren belegen zu können, frei und unschuldig das Gericht verließen. Heinig führt also aus, dass sein Mandant zwar vermummt und bewaffnet gewesen sei, wie es die Anklage wiedergab, aber weit hinter Müller gelaufen sei, aufgrund einer auch auf Nachfrage der Richterin nicht näher definierbaren Sehschwäche nichts gesehen habe und sich – und hier wird es richtig absurd – mit dem Moment, indem die Dienstwaffen gezogen worden wären, „in Polizeigewahrsam“ befunden habe und somit unschuldig sei. 
Müller dagegen zieht es vor, selbst seine Sicht der Dinge zu schildern. Am Vortag habe er Geburtstag gefeiert, daher seien noch viele Menschen im Haus, er selbst und seine damalige Freundin Melanie Schmitz aber so müde gewesen, dass sie leicht bekleidet auf ihrem Sofa gesessen hätten. Auf der Straße hätten sie dann „Alerta Antifascista“-Rufe gehört und kurz darauf das Klirren einer Flasche. Dann habe Schubert an der Wohnungstür gestanden und gerufen, es gäbe einen Angriff, woraufhin er zu Schmitz gesagt habe, sie solle „die Bullen rufen“, sich angezogen habe und ins Treppenhaus gelaufen sei. Dort habe er sich die Polizeischutzausrüstung angezogen und sei zu Schubert an die Eingangstür hinab gelaufen. Sie hätten auf der Straße keine der vermeintlichen Angreifer sehen können, dafür aber Personen, die über den von ihrem Haus aus rechten Zugang auf den gegenüber liegenden Campus gelaufen seien. Sie hätten sich entschlossen, diese zu „stellen“ und seien dafür über den linken Zugang auf den Campus gelaufen. Zwischen dem Studentischen Aufenthaltsraum und der Cafeteria hätten sie auf der Wiese dann zwei Personen ausgemacht, die sie für die vermeintlichen Angreifer hielten. Diesen hätten sie sich vorsichtig genähert. Da einer von beiden einen „Tunnelohrring“ gehabt habe, hatte Müller sie für „Linke“ gehalten und in ihre Richtung Pfefferspray gesprüht. Erst dann hätten diese sich als Polizisten zu erkennen gegeben und Müller und Schubert hätten ihren Fehler eingesehen und seien bereitwillig deren Anweisungen gefolgt. Dabei war es Müller wichtig zu betonen, dass er sich nach seiner Festnahme entschuldigt habe, weil die Angegriffenen Polizisten waren und er das Gefühl hatte – diese Formulierung war ihm so wichtig, dass er sie mehrfach wiederholte – mit beiden „von Mann zu Mann“ reden zu können.
Die Taktik der Verteidigung baut neben dem Versuch, Schubert als unschuldig darzustellen auf zwei Säulen auf. Zum einen auf der vermeintlichen Notwendigkeit einer Selbstverteidigung der Hausbewohner*innen und zum anderen auf der Nichterkennbarkeit der Angegriffenen als Polizisten. Angeblich sei die ganze Aktion ein Akt der Selbstverteidigung gewesen. Dabei ist die Rede von Flaschenwürfen, die zu hören gewesen seien. Melanie Schmitz betonte in ihrer Zeugenaussage, es hätten auch Steine gewesen sein können. Eingewoben wird das Ganze in ein wortwörtlich bildreiches Narrativ des eigenen Opferstatus‘. Die Anwälte haben Sammlungen von Bildern und Dokumenten zu einem drei Wochen vorher stattgefundenen angeblichen Angriff für das Gericht dabei. Bei diesem hätten „rund dreißig Linksautonome“ so Müller, das Haus gezielt angegriffen, die Kameras besprüht, „über einhundert Pflastersteine“ (sie hätten gezählt!) gegen das Haus geworfen, brennende Barrikaden errichtet und ein Loch in die Tür „gefräst“, durch das Buttersäure verspritzt worden sei. Die mitgebrachten Bilder wirken wie diejenigen, die der IB-Tarnverein Einprozent veröffentlicht hat. Offensichtlich ist dies der Versuch, nicht nur von den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft im verhandelten Fall abzulenken, sondern auch Richterin und Schöffinnen zu beeinflussen. Dazu berichten die Mitglieder der „IB“ von unzähligen weiteren Angriffen und verweisen auf entsprechende Anfragen der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt. Dass es zu dem beschriebenen Angriff auf das Haus keine Festnahmen und keine Schuldsprüche, ja nicht einmal ein Bekennerschreiben oder andere Indizien auf die Identität der angeblichen Täter*innen gibt, wird geflissentlich ignoriert. Die Angeklagten und die Verteidigung manifestieren stattdessen den Begriff der „Linken“, wenn sie über angebliche Angreifer*innen sprechen. Dass bei den vermeintlichen vorangegangenen Angriffen die gerufene Polizei nicht erschienen sei, nehmen sie als Rechtfertigung, sich selbst verteidigen zu müssen. Im konkreten Fall hat die Sache aber drei Haken. Haken Nummer Eins: Müller behauptet, Schmitz damit beauftragt zu haben die Polizei zu rufen. Diese kann sich daran nicht erinnern, sondern meint, dass es als allgemeine Aufforderung in den Hausflur gerufen worden sei. Weder sie, noch die beiden Angeklagten haben – so ist es ihren Aussagen zu entnehmen – die Polizei gerufen. Für die Aktion, die sie stattdessen als Reaktion auf den Angriff planten, nämlich bewaffnete Selbstjustiz, wäre die Polizei als Zeuge ja auch denkbar unpassend. Haken Nummer Zwei: Diejenigen, die einen Flaschenwurf auf das Haus beobachtet haben und die Verfolgung der mutmaßlichen Täter aufnahmen, waren Polizisten. Denn die vier Zivilpolizisten, von denen zwei im Verlauf des Abends von Müller und Schubert angegriffen wurden, waren zum Schutz des Hauses vor Ort. Da am nächsten Tag der Prozess gegen Andreas Karsten6 stattfinden sollte, erwartete die Polizei mögliche Auseinandersetzungen am Haus. Deswegen bewachten sie die Adam-Kuckhoff- und die Luisenstraße. Auch ein von den Zivilpolizisten zur Unterstützung gerufener Streifenwagen war schnell genug da, sodass seine Besatzung den Angriff der beiden Faschisten auf die Polizisten beobachten konnte. Haken Nummer Drei: Beide Angeklagte sagen aus, dass die vermeintlichen Angreifer den Ort des Geschehens bereits verlassen hätten. Eine Notwehrsituation lag nicht mehr vor. Die schwer bewaffnete Verfolgung der vermeintlichen Angreifer auf den Campus, ja das gezielte Stellen einer Falle, indem man sie zu umgehen versucht, ist durch keine juristische Begründung zu rechtfertigen. Der Hinweis von Augenzeug*innen aus der Nacht selbst, dass der Großteil der später als Scherben von der Polizei in Augenschein genommenen Flaschen aus dem Haus heraus geworfen sein soll7, wird im Prozess gar nicht erst behandelt. 
Der zweite Punkt ist moralisch deutlich perfider. Denn die Anwälte, Heinig hierbei wiedermal als Wortführer, wenngleich offenbar zu laut, zu pöbelig und zu respektlos für das hallesche Rechtswesen, versuchen energisch nachzuweisen, dass die Polizisten nicht als Polizisten zu erkennen gewesen seien. Das mag für die Bestimmung des genauen Tatbestands Relevanz haben, also für die Frage, ob wissentlich Beamte angegriffen wurden oder nicht, für die Intention dahinter und für die gefährliche Körperverletzung ist der Status der Opfer jedoch vollkommen irrelevant. Dennoch pochen die Anwälte auf die Frage der Erkennbarkeit. Zunächst erscheint dies bereits absurd, da es sich um die ersten vier Beamten vor Ort um Zivilbeamte gehandelt hat; eine Erkennbarkeit als Polizist ist das Letzte, was diese gebrauchen können. Mindestens einer von beiden gab auch an, mit einem Schlauchschal vermummt gewesen zu sein, um auch später noch zivile Einsätze durchführen zu können. Interessant hierbei ist, dass Müller die Vermummung in seinen Ausführungen genauso gesehen haben will, gleichzeitig aber auf den Tunnel im Ohr des gleichen Polizisten verweist – ein Piercing, dass keiner der polizeilichen Zeugen trägt und das bei hochgezogenem Schlauchschal wahrscheinlich nicht zu sehen wäre. Ebenfalls nach hinten los ging Müllers Nachfrage an einen der Beamten im Zeugenstand, wie er die Akustik in einem Polizeihelm, wie Müller ihn bei der Tat trug, einschätzen würde, denn die Antwort war „sehr gut“. Ein wichtiges Detail, um den sich viel Dialog während des Prozesses drehte, war die Armbinde, die einer der beiden Angegriffenen während des Angriffs getragen haben will. Sie sei neongrün gewesen mit dem reflektierenden Aufdruck „Polizei“. Weder in den ursprünglichen Pressemitteilungen zum Angriff aus dem Herbst 2017 noch in den ersten Berichten, die die Beamten angefertigt haben, wurde diese Binde erwähnt. Erst nach einer zweiten, internen Befragung der Beamten tauchte diese in den Aussagen auf. Während der Polizist, der sie getragen haben will, genau sagen konnte, wann er sie aufgezogen hatte, wo sie sich an seinem Arm befand und wies sie aussah, waren die Angaben seiner Kollegen deutlich vager. Sie alle wussten um die Binde, aber eben nicht im Detail. Der vermeintliche Träger erklärte auch, dass diese Binden nicht zur Ausstattung der sachsen-anhaltinischen Polizei gehörten und er sie daher aus Niedersachsen habe bestellen müssen. Andere Beamte mutmaßten auch, ihre angegriffenen Kollegen anhand schusssicherer Westen erkannt zu haben. Sicher waren sich alle Polizisten darin, dass sie ab dem Betreten des Campus praktisch unablässig gerufen hätten, dass sie Polizisten sind. Diese Schilderungen klingen sehr vage, abgesprochen und wenig glaubhaft. Andererseits hätte Verteidigern, die so tief in rechtsradikalen Kreisen verankert sind, aber auch klar sein müssen, was Corpsgeist ist und was dieser für die Aussagen der Polizei vor Gericht bedeutet. Eine Erfahrung, die all diejenigen machen müssen, deren Aussage denen als Zeugen geladener Polizist*innen gegenüber steht, ist, dass diese immer im Recht zu sein scheinen und die ihnen von Amtswegen attestierte Glaubwürdigkeit praktisch unerschütterlich ist. Ob es also eine Binde gegeben hat, wann die Polizisten sich rufend zu erkennen gaben und ob sie Fehler in ihrem Job gemacht haben, ist vor deutschen Gerichten meist irrelevant. Dass diese Erfahrung ausnahmsweise dazu führt, dass die Stellung von Faschisten vor Gericht geschwächt ist, darf zwar für ein Schmunzeln reichen, nicht aber über die Gefahr, die von dieser strukturellen Ungerechtigkeit ausgeht, hinwegtäuschen.
Die Aussagen der angegriffenen Polizisten belegen zudem, dass es ein verhältnismäßiger Glücksfall war, dass Müller und Schubert als erstes auf überlegen bewaffneten Widerstand trafen. Denn nicht nur widersprechen sie der These, dass die beiden langsam unterwegs gewesen wären und Schubert deutlich hinter Müller geblieben wäre, mit der Aussage, dass sie sehr schnell und energisch auf sie zukamen, sondern auch mit dem Hinweis auf die ihnen von den Angreifern entgegen gerufenen Drohungen, sie würden sie „fertig“ oder „platt“ machen, während die drohend ihre Schlagwaffen erhoben hatten. Hätten die beiden tatsächlich die Gruppe, die sich wenige Meter entfernt, auf der Vorderseite der Cafeteria befunden hatte, angetroffen, die sie für „Linke“ hielten, hätte Bewaffnung und geäußerte Motivation zu schwersten Verletzungen oder Toten führen können. Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, dass es für die Einordnung der Tat entscheidend sein soll, ob die Angreifer sich bei der Wahl ihrer Ziele vertaten. Auch der nachweisliche Wurf einer Flasche gegen ein Gebäude rechtfertigt keine körperliche und erst recht keine potentiell tödliche Gewalt. Zudem gibt es weitere Versuche der Anwälte, die Polizisten unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Zum einen lassen sie alle Zeugen die Abstände zwischen den Akteuren des Geschehens in möglichst genauer Meterangabe schätzen und legen die angeblich gerufenen Aussagen, die sie als Polizisten auswiesen auf die Goldwaage, mit der Begründung sie widersprächen sich. Ausserdem versuchen sie die angegebenen Schäden, die die Beamten durch das von Müller gegen sie eingesetzte Pfefferspray erlitten haben, durch medizinisch unpassende Kriterien wie die Glasgow-Coma-Scale zu relativieren.
Zumindest der erste Punkt – die Begründung mit dem angeblichen Angriff – scheint auf fruchtbaren Boden vor Gericht zu fallen. Die Richterin spricht von der Gruppe an der Cafeteria, die zu dem Zeitpunkt bereits von den zwei zuerst eingetroffenen Zivilbeamten gestellt worden war, von „Tätern“. Dies ist absurd, da als vermeintlicher Beweis ihrer Schuld die räumliche Nähe zum angeblich angegriffenen Haus und der Besitz von Bierflaschen gleicher Marke wie die am Haus gefundenen Scherben angegeben wird. Weder hat es bezüglich des angeblichen Angriffs einen Prozess noch ein Urteil gegeben. Choleriker Heinig deutet dies, einen Tag nach einem umfangreichen Bericht über die Tatenlosigkeit der halleschen Staatsanwaltschaft bei der Bekämpfung rechtsradikaler, antisemitischer und rassistischer Straftaten (8), als politische Willkür der halleschen Staatsanwaltschaft, die bei „linken Straftaten“ mit zweierlei Maß messe, während Rechte wie die Angeklagten mit horrenden Strafen zu rechnen hätten. Dennoch gibt der verantwortliche Oberstaatsanwalt dem Antrag statt, die Akten aus dem Ermittlungsverfahren des Abends zum Prozess hinzuzuziehen. Aus diesen wird sich keinerlei strafmildernde Erkenntnis für den Prozess ableiten lassen, allerdings werden somit zwei mutmaßlichen rechtsradikalen Gewalttätern die Namen vermeintlicher politischer Gegner*innen zugespielt. Eine unnötige Widerlichkeit, die die Staatsanwaltschaft ohne überzeugenden Widerstand mitmacht.
Interessant sind weiterhin verschiedene Details der Aussagen. So gibt Müller an, im Gespräch mit dem für den Schutz des Campus‘ beauftragten Sicherheitsmanns, der sich all den Hoffnungen, die die Verteidiger in seine Berufung als Zeuge gesetzt haben, als unwürdig herausstellt, dessen Bitte keine rechten Sticker mehr auf dem Campus sehen zu wollen, respektiere und „[seine] Jungs […] an die kurze Leine“ zu nehmen versprach. Dies bestätigt noch einmal seine unangefochtene Führungsposition der halleschen „Kontrakultur“. Nach seinem Weggang aus Halle konnte die Gruppe keinen neuen (An-)Führer finden, der sowohl über die körperliche Schlagkraft als auch die geistigen Fähigkeiten und die sprachliche Eloquenz Müllers verfügte. Seinen besonderen Status konnte man auch aus der Aussage seiner ehemaligen Freundin Melanie Schmitz ablesen. Schmitz, die aus Essen angereist war, um zu betonen, dass sie nicht viel Zeit habe, da sie zurück zu ihrem Kind müsse, erzählt, dass sie und Müller eine eigene Wohnung im Haus gehabt hätten, während andere Mitglieder der „IB“ eine WG im Dachgeschoss gebildet hätten. Schmitz scheint die einst bei ihr bewunderte Ambivalenz als vermeintlich starke Frau in der traditionalistischen rechten Bewegung mittlerweile vollends aufgegeben zu haben, gibt sie doch bei der Frage nach ihrem Beruf an, „Hausfrau“ zu sein und kann auch auf Nachfrage keine berufliche Ausbildung benennen. Die detaillierte Beschreibung, die sie über das Haus abgibt und die bislang zu verschleiern versucht wurde, ist aber zumindest ein weiterer Beweis für das endgültige Ende des Hausprojekts. 
Die Anwälte der beiden Angeklagten können der Anklage wenig entgegen setzen und klammern sich daher an abwegige Strohhalme. Die IB konnte ihr Opfernarrativ nicht glaubwürdig verkaufen. Zu eindeutig waren ihre Intention und Ausrüstung. Umso erschreckender, dass die Staatsanwaltschaft das Ausmaß der geplanten Gewalt scheinbar nicht kontextualisieren will.  Ausserdem kann dieses Narrativ auch nur solange bestehen, bis die zahlreichen Angriffe durch die „IB“, insbesondere aus dem Haus in der Adam-Kuckhoff-Str. heraus thematisiert werden. (9)
Die Frage des Oberstaatsanwalts, ob denn ein dritter Prozesstag unbedingt nötig sei, ist daher mehr als berechtigt. Nicht wegen seiner Begründung, dass er am geplanten Termin nicht verfügbar sei, aber weil die bisher vorgebrachten Beweise mehr als ausreichend für eine Verurteilung sind. Umso gespannter sind wir, was uns am kommenden Mittwoch erwarten wird. 
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Zweiter Prozesstag

24.06.2020 09:30 Uhr
Auch der zweite (und wie sich herausstellen sollte letzte) Prozesstag beginnt mit Polizeipräsenz und der aus der letzten Woche bekannten Einlassregelung, nach der „fünf Personen aus jeder Gruppe“ eingelassen würden. Auf Nachfrage werden die Gruppen danach definiert, „für welche Seite“ mensch sei. Die Seiten wiederum werden nicht definiert. Die „IB“ dieses Mal mit weitgehend anderen Personen als in der Vorwoche. Torsten Görke, Jörg Dittus (der sich um den Titel „Peinlichster Schnurrbart der Neuen Rechten“ zu bewerben scheint), Till-Lucas Wessels, Andreas Karsten, Heinrich Mahling, Robin Thomaßen, Jonas Schick, Paul Klemm und Hannah Schröder vertraten diesmal die IB bzw. ihr nahes Umfeld im Gericht.
Der erste und einzige Zeuge des Tages ist ein ehemaliger Nachbar. Er demontiert relativ schnell die Behauptung, dass es einen „Angriff“ auf das Haus gegeben habe. Eine Gruppe von fünf bis sechs Personen sei Punkrock hörend in die Straße gekommen und hätte angefangen, Parolen in Richtung der AKS 16 zu rufen. Die Reaktion seien Pöbeleien aus verschiedenen Stockwerken des Hauses und anschließend Flaschenwürfe gewesen. Wohlgemerkt gibt der Zeuge an, dass diese „großen Flaschen“ aus dem Haus, genauer aus dem ersten und zweiten Stock, gezielt auf die Personen auf der Straße geworfen worden seien. Da er sich über die Zählung der Stockwerke unsicher ist, kann lediglich die Etage, in der Schmitz und Müller zu diesem Zeitpunkt gewohnt haben, und eine weitere als sicher angegeben werden. Hinzu kommt die Aussage Müllers, dass sich eine größere Gruppe Menschen im Haus aufgehalten habe, zeitweilig war von rund 40 Personen die Rede. Somit waren die „IBler“ nicht nur eindeutig in der Überzahl, sondern von ihnen ging auch die einzig eindeutig bezeugte Gewalthandlung des Abends in Form von Flaschenwürfen aus. Laut dem Zeugen hätte die Gruppe auf der Straße die im Haus befindlichen Personen als Feiglinge bezeichnet und aufgefordert, das Haus zu verlassen. In der Zwischenzeit habe er bereits die Polizei alarmiert. Wohlgemerkt als einziger in der betreffenden Nacht. Die Gruppe auf der Straße sei dann auf den Campus weitergezogen. Im Gegensatz zur offensichtlich bereits durch das Narrativ der Verteidigung vereinnahmten Richterin, spricht er in diesem Zusammenhang von „den Passanten“. Auf Nachfrage erklärt er, ein Problem mit der „IB“ gehabt zu haben und daher einen Smiley mit verdrehten Augen während einer Demonstration gegen das Haus sichtbar an seinem Fenster befestigt zu haben. Ausserdem versucht Müller weiter auf der Klaviatur der guten Nachbarschaft zu spielen, als er den Zeugen fragt, ob nicht während eines mutmaßlichen Angriffs auf die AKS16 eine Scheibe von ihm zerstört worden wäre und sie ihm daraufhin angeboten hätten, die Reparatur zu bezahlen. Dies habe er abgelehnt, so der Zeuge. Ihm war jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass das Haus und die daran angebrachten Kameras, die sowohl seine Eingangstür als auch seinen Hinterhof zu filmen in der Lage gewesen seien, ein Klima der Bedrohung und Beobachtung in der Nachbarschaft hervorgerufen habe. Schließlich sei er, auch wegen des Hauses, dort weggezogen.
Nachdem der Zeuge entlassen wurde, stellt der Oberstaatsanwalt fest, dass dem Antrag der Nazianwälte aus der Vorwoche nicht stattgegeben werde. Die Akten zum Ermittlungsverfahren gegen die vermeintlichen Angreifer der Nacht würden nicht hinzugezogen. Dieses sei auch bereits eingestellt. Diese Aussage veranlasst Heinig zu einem Anfall von Pöbelei, mit dem er vermutlich seinem Frust darüber Luft macht, nicht Namen und Adressen vermeintlich Linker auf dem Silbertablett präsentiert zu bekommen. Er habe es ja in der Vorwoche prophezeit, dass die Akten nicht hinzugezogen würden und dass das Verfahren eingestellt sei, da die Staatsanwaltschaft in Halle doppelte Standards ansetze, nach denen „Linke“ nichts und „Rechte“ wie sein Mandant permanent Verurteilungen zu befürchten hätten.
Nach dieser Feststellung geht es relativ schnell dem Ende entgegen. Der Staatsanwalt beginnt eher unvermittelt sein Plädoyer, nachdem beide Angeklagten gemeinschaftlich der gefährlichen Körperverletzung, Widerstand und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte für schuldig zu befinden seien. Weshalb er in seinen Ausführungen die Zeugenaussagen der zwei zur Unterstützung gerufenen uniformierten Polizisten ignoriert und damit eine Bresche für die Verteidiger lässt, in die diese bereitwillig springen, wird er nur selbst wissen. Für ihn sei es jedoch erwiesen, dass die beiden den Angriff fortgesetzt hätten, obwohl die Angegriffenen als Beamte zu erkennen waren. Seine Empfehlung für das Strafmaß erscheint dementsprechend hoch mit einem Jahr auf Bewährung bei einer vierjährigen Bewährungsfrist für Müller, sowie 2000€ an die Staatskasse und acht Monaten auf Bewährung bei einer zweijährigen Bewährungsfrist, sowie 500€ bei Schubert. Die Verteidigung bleibt sich in ihrer Argumentation treu. Es habe einen Angriff gegeben, die beiden seien aus dem Haus gelaufen, um die „Angreifer zu stellen“, wozu sie das Recht hätten, da sie sie auf frischer Tat ertappt hätten und festnehmen wollten, um sie der Polizei zu übergeben. Dass diese von den angeblich angegriffenen Rechten nicht gerufen wurde, interessiert hierbei offenbar nicht. Die beiden Angegriffenen seien nicht als Polizisten zu erkennen gewesen und der Pfefferspraystoß, den Müller zugab abgegeben zu haben, sei eine Warnung und nicht dazu gedacht gewesen, die beiden Beamten zu verletzen. Ausserdem betont Heinig seine Version der Dinge, dass Schubert sich schon ergeben habe, als Müller den Angriff fortgesetzt habe und daher freizusprechen sei. Um halb zwölf wird die Verhandlung unterbrochen, das Urteil solle um eins verkündet werden. 
Mit einer Verzögerung von einer halben Stunde folgt dann schließlich die Urteilsverkündung, bei der der Richterin anzumerken ist, wie ungern sie überhaupt ein Urteil sprechen möchte. Die Beeinflussung des Gerichts durch den Verweis auf vorherige mutmaßliche Angriffe und die Opferrolle, in der sich die armen Faschist*innen befunden hätten, zeigt hier deutlich ihre Wirkung. Schubert wird freigesprochen, da das Gericht meint, ihm keine Straftat nachweisen zu können. Sturmhaube und Baseballschläger soll er zurück bekommen. Müller wird ebenfalls freigesprochen, zumindest in Bezug auf den illegalen Waffenbesitz, da ein Gutachter festgestellt habe, dass die schussbereit auf der Fensterbank liegende Zwille mit den zugehörigen 9mm-Stahlkugeln nicht gegen das Waffengesetz verstoße. Wegen des Angriffs auf die Zivilbeamten wird er verurteilt, allerdings bleibt seine Strafe weit hinter den Forderungen des Oberstaatsanwalts zurück. Neun Monate auf Bewährung wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Richterin und die Schöffinnen seien überzeugt, dass beide die Angegriffenen nicht als Zivilfahnder erkannt und somit nicht willentlich Vollstreckungsbeamte angegriffen hätten. Dazu ist die Richterin sich nicht zu schade, die Aussage eines vernommenen Polizisten, dass die Akustik in einem Polizeihelm sehr gut sei, ins Gegenteil zu verkehren. Vollkommen ignoriert wurde bei der Bildung des Urteils auch die vom letzten Zeugen geschilderte Situation des Abends, weswegen die Richterin fortwährend von einem Angriff auf das Haus spricht. Die einschlägigen Vorstrafen Müllers werden zwar anerkannt und offenbar strafverschärfend berücksichtigt, allerdings der Grad der Verletzung der Beamten und die spätere Kooperation der Festgenommenen strafmildernd berücksichtigt. Sie kommt daher auf ein Strafmaß von acht Monaten auf Bewährung bei einer Frist von zwei Jahren sowie einer Zahlung von 1000€ an den Weißen Ring binnen eines Jahres. Pfefferspray, Schlagstock, Schild und Helm werden einbehalten. Auffällig 
dann der geradezu liebevolle Ton, in dem die Richterin Müller attestiert „mit beiden Beinen im Leben zu stehen“ und daher keinen Bewährungshelfer zu brauchen. 
Problematisch an diesem Urteil ist nicht nur das Strafmaß, sondern vor allem auch die Art und Weise, wie es zustande kam. Kritik an der einseitigen Darstellung der „IB“ als Opfer kam nicht auf. Weder als klar wurde, dass sie nach dem „großen Angriff“, den es einige Wochen vorher gegeben haben soll, eine polizeiliche Gefährdungsansprache bekommen hatten, die auch die Zusicherung polizeilichen Schutzes für das Objekt AKS16 beinhaltete. Nicht als klar wurde, dass niemand aus dem Haus die Polizei gerufen hat und damit die Mär vom Ziel einer Festnahme durch das eines Racheakts ersetzt werden muss. Nicht als die Begründung für diese vermeintliche Rache durch den letzten Zeugen, der vornehmlich von Würfen aus dem Haus berichtete, negiert wurde. Keine Erwähnung fand die Frage, was die beiden in der Lage zu tun gewesen wären, hätten sie die vermeintlichen politischen Gegner angetroffen. Der beantworteten Kleinen Anfrage des IB-Freunds Hans-Thomas Tillschneider, die eine Auflistung angeblicher Angriffe auf das Haus, deren Intention weder durch Bekennerschreiben noch Ermittlungen geklärt werden konnte, wurde keine Zusammenstellung von Angriffen, die aus dem Haus oder von der „IB“ begangen wurden, gegenübergestellt, um das Opfernarrativ zu konterkarieren. Erschwerend kommt hinzu, dass das Narrativ der armen Rechten bei mindestens einer Schöffin, die auf ihrem facebook-Profil nicht nur AfD, sondern auch diverse Verschwörungstheorien teilt, auf fruchtbaren Boden gefallen sein muss.
Wer vom juristischen System Gerechtigkeit erwartet, kann seine Hoffnungen jetzt auf die Revision der Staatsanwaltschaft stützen. An der Grundlage für eine solche Hoffnung lässt dieses Urteil gegen gewaltbereite Faschist*innen jedoch zweifeln.
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Fußnoten

        
        
        
        
(5) https://autonome-antifa.org/?breve4848                  
        
        
(7) Siehe Fußnote 5
        
        
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Presseschau

1. Prozesstag
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2. Prozesstag
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